Zurück zur Presseübersicht
Zurück zu "Der Orient Express in der Presse"
Gießener Allgemeine, 08.12.2002
Schnaufend rollt sie über die Schienen - Mit der Oldtimer-Lok "Blue Star" auf Tour

Es zischt und pfeift. Dann steigt Dampf aus dem Schornstein der Lok. Gleichmäßig rattern die roten Räder über die Gleise des Gießener Bahnhofs in Richtung Frankfurt. Der Geruch von verbranntem Heizöl vermischt sich mit dem kalten Dezemberwind, der durch die Ritzen des kleinen Lokführerstands zieht. Der Heizkessel der über 60 Jahre alten Stromliniendampflok glüht, schnell beschleunigt die „Blue Star“ ihre Fahrt auf 120 Kilometer pro Stunde. „Wir haben Glück, die Sicht ist heute gut“, sagt Lokführer Hans Friedrich. „Der schlimmste Feind ist Nebel, da sieht man die Signale schlecht.“
Nostalgie pur: Bei einem Zwischenstopp werden Öl und Wasser aufgetankt. (Foto: Mossig)


Während an dem winterlichen Samstagmorgen am Horizont langsam die Sonne aufgeht, stimmen sich die Fahrgäste noch etwas schlaftrunken in ihren Abteilen bei Lebkuchen und leiser Musik auf den Ausflug zum Nürnberger Christkindlesmarkt ein. Mitarbeiter Roland Schwabe geht bereits mit heißem Kaffee und Brötchen durch die Abteile. Für ihn und seine Kollegen hat der Arbeitstag schon um drei Uhr morgens begonnen. Tage- und nächtelang haben die Vorbereitungen gedauert, um die einzige betriebsfähige Stromliniendampflok Deutschlands für die Wochenendfahrt fit zu machen. „Wir sind schon seit vier Tagen rund um die Uhr beschäftigt“, sagt Heizer Jens Röder. Nicht nur der 35 000 Liter große Wassertank und der 14 000 Liter fassende Heizöltank müssen zur Abfahrt randvoll sein. Die Lok braucht insgesamt viel Pflege. Schrauben müssen geprüft und nachgezogen werden, Literweise Öl geschmiert, Bremsen, Lichtmaschine, Luft- und Wasserpumpe, zahlreiche Sicherheitsventile und Wasserstände werden sorgfältig überprüft. Dann, am Tag vor der Abfahrt, wird die Lok auf Hochglanz poliert. „Das sind jedes Mal 350 Quadratmeter“, sagt Röder und wischt sich dabei seine ölverschmierten Hände an einem Lappen ab. Während die „Blue Star“ im Lokschuppen in Gießen steht, wohnen die rund zehn Mitarbeiter in einem Schlafwagen direkt in ihrer Nähe.

Nachdem die über 25 Meter lange blaue Lok eine schon eine gute Stunde durch Hessen rollt, wirken Lokführer und Heizer entspannter. „Alles in Ordnung“, sagt Röder zufrieden und lauscht dabei den vertrauten Geräuschen der alten „Blue Star“. In Kitzingen, kurz hinter Aschaffenburg, wartet bereits die freiwillige Feuerwehr, um den Wassertank der Lok aufzufüllen. Zahlreiche Schaulustige stehen bereits mit Foto- und Videokamera an den Gleisen, um das seltene Schauspiel zu beobachten. Denn obwohl der Tank 35 000 Liter fasst, reicht die Menge bei weitem nicht aus, um nach Nürnberg zu kommen. „Auf hundert Kilometern verbraucht die Lok etwa zwischen 13 000 und 15 000 Liter Wasser sowie 2000 Liter Öl“, sagte Heizer Jens Röder. Für die rund 700 Kilometer von Gießen nach Nürnberg und zurück sind das also mehr als 100 000 Liter Wasser und rund 14 000 Liter Heizöl. Um die alte Lok bei extremen Steigungen etwas zu unterstützen und die Stromversorgung zu verbessern, fährt eine Elektrolok am Ende des Zuges mit. Mit dem Baujahr 1946 gehört diese ebenfalls zu den „Oldies“. Nach der Tankunterbrechung rauscht der Zug weiter in Richtung Nürnberg.

"Sie war der Vorreiter der heutigen ICE`s"

1940 wurde die 188 Tonnen schwere Stromliniendampflok der Baureihe 01.10. bei Schwarzkopff in Berlin-Wildau für den damaligen Personenschnellverkehr gebaut. Mit ihrer windschnittigen Verkleidung war sie für die damalige Zeit besonders. „Sie ist quasi der Vorreiter des heutigen ICE`s“, sagt Zugchef Johannes Klings. Ihre Höchstgeschwindigkeit beträgt 150 Kilometer pro Stunde. Einer der neun Lokführer, Werner Huxol aus Osnabrück, erinnert sich noch gut an die alten Zeiten: „Ich bin die Blue Star lange Zeit in den 60er Jahren quer durch Deutschland gefahren“, sagt er mit glänzenden Augen. „Auf der Dampflok, da herrscht noch echte Kameradschaft zwischen Heizer und Lokführer“, meint der Rentner. Da sei man während der Arbeit aufeinander angewiesen. „In den heutigen Loks sitzt man nur allein rum, das macht auf Dauer keinen Spaß“, sagt er. „Die Arbeit mit der Blue Star ist für uns alle kein Beruf, sondern eher eine Berufung“, sagt Röder. Er kann sich noch genau an die 90er Jahre erinnern, als alles anfing. Seit 1996 kurvt die 2880 PS starke Stromliniendampflok nun schon mit rund 20 Mitarbeitern auf Nostalgiefahrten durch Deutschland. Die Idee, die „Blue Star“ vom Denkmalsockel in Bebra zu holen, wo sie seit ihrer Ausmusterung 1973 stand, hatte Mitte der 90er Jahre Zugführer Klings, erzählt dieser.

Gemeinsam mit seinem Freund Röder brachte er die Museumslok zum Dampflokausbesserungswerk in Meiningen (Thüringen), wo sie damals mit Hilfe von Spenden für rund 1,5 Millionen Mark, also etwa 750 000 Euro, mehr als ein Jahr lang aufgearbeitet wurde. Am 1. März 1996 war es dann soweit: Die „Blue Star“ startete mit einer Jungfernfahrt in ihren dritten Lebensabschnitt. Zwanzig bis 25 Fahrten mache die „Blue Star“ jährlich, schätzt Röder. Mittlerweile ist es zwölf Uhr mittags und der Zug trifft am Nürnberger Bahnhof ein. Auch hier warten bereits zahlreiche Eisenbahnfans, um die alte Lady am Bahnsteig zu begrüßen. Während sich die rund 430 Gäste auf den Weg zum Christkindlesmarkt machen, fährt die Lok zum Nürnberger Bahnwerk. Dort erfolgt das gleiche Prozedere, wie am frühen Samstagmorgen. Auf einer Drehscheibe wird dann schließlich die Lok in Fahrtrichtung gebracht. Auch hier haben zahlreiche Eisenbahnfans ihre Fotostative bereits aufgestellt. „Ich bin extra aus München gekommen, um die Lok zu sehen“, erzählt eine Frau.

Die vier Männer im Lokführerstand werden nun von ihren neuen Kollegen abgelöst. „Wir haben immer eine Schicht von rund zehn Stunden“, sagt Lokführer Friedrich. Auf der „Blue Star“ fahren ehemalige und noch beruflich aktive Lokführer und Heizer mit, die sich für die Fahrten meist extra Urlaub nehmen. Der 21-jährige Jan Hallweit träumt davon, auch einmal Lokführer zu sein. Laut Röder gibt es zurzeit Deutschlandweit nur eine private Schule in Güstrow (Mecklemburg-Vorpommern). Dort bieten zwei ehemalige Lokführer Lehrgänge für einige tausend Euro an. Da will Jan bald hin. Auf der „Blue Star“ sammelt er schon seit längerem praktische Erfahrung und lernt von den „alten Hasen“.

Nach der Rückfahrt um 19 Uhr steigt im Bar-Wagen die Stimmung bei den Fahrgästen. Zwischendurch marschiert Zugführer Klings als Nikolaus durch die Wagons. Begeistert äußern sich viele Gießener zum Tagesausflug: „Der Service vom Zugpersonal war super!“, lobt ein Paar aus Münzenberg. Die Stimmung sei insgesamt sehr herzlich. Der achtjährige David aus Fernwald-Steinbach hat sich auf dem Nürnberger Christkindlesmarkt eine kleine Lok gekauft. „Wenn ich groß bin, will ich auch Lokführer werden!“, sagt er und strahlt. Es ist seine erste große Fahrt mit einer so alten Lok. Und Eisenbahnfreund Reiner Braun aus Heuchelheim hat sich mit dieser Nostalgiefahrt einen geheimen Wunsch erfüllt. Als gebürtiger Bürger der Stadt Bebra kennt er die Lok aus ihrer Denkmalzeit. An den schnaufenden Dampfloks habe er bereits als Kind einen Narren gefressen. „Bei dieser Fahrt werden viele Erinnerungen wach“, lächelt er.

Nach Ankunft um Mitternacht gehen alle Fahrgäste dann erschöpft und zufrieden nach Hause. Nur das „Blue-Star“-Team hat noch nicht Feierabend. Denn bis zur nächsten Abfahrt am Sonntagfrüh um sechs Uhr nach Luxemburg muss die Lok noch vorbereitet werden.

Zurück zur Presseübersicht
Zurück zu "Der Orient Express in der Presse"